Editorial

Im Schatten des Kulturkriegs

| 14. Juli 2021
istock.com/Kris Hoobaer

Liebe Leserinnen und Leser,

Matteo Salvini hat seine Lehren gezogen. Dem ehemaligen stellvertretenden Ministerpräsidenten wurde in seiner kurzen Zeit in Regierungsämtern vor Augen geführt, dass eine Rückkehr zur Macht nur über den Frieden mit den EU-Eliten zu machen ist. Noch unter der Regierung Conte I (2018-2019) – unterstützt von Lega und Fünf-Sterne-Bewegung – begab sich die Regierung wegen einer winzigen Erhöhung des Haushaltsdefizits auf Kollisionskurs mit Brüssel. Wir berichteten damals. Salvini, der gute Chancen hat, der nächste Ministerpräsident Italiens zu werden, weiß also, dass er die Gunst Brüssels gewinnen muss, wenn er in Zukunft eine Chance auf eine Regierungsbeteiligung haben will.  

Natürlich, Salvinis Euroskeptizismus war wohl immer mehr Show als Realität, schreibt Thomas Fazi. Entscheidend aber ist die Art und Weise, mit der die ökonomische Grundhaltung der EU alle Alternativen zum Management von Gesellschaft und Wirtschaft außerhalb des neoliberalen Regelwerks ausschließt - egal ob von rechts oder links. Das zwingt die politischen Auseinandersetzungen unweigerlich auf ein rein kulturelles und identitäres Terrain. Passend dazu haben Salvinis Lega und andere Rechtsparteien ihre Kritik an der EU neu formuliert. Sie bezieht sich nicht mehr auf die Wirtschaftspolitik, sondern geißelt deren Angriff auf die "Vielfalt" der europäischen Völker.

Damit sei es der EU gelungen, so Fazi, jegliche Opposition gegen sich selbst vom sozioökonomischen Terrain auf das identitäre Terrain zu verlagern und damit genau die Kulturkriege anzuheizen, die unsere Gesellschaften auseinander zu reißen drohen. Der von den Linken zelebrierte „Wokismus“ sei nur die andere Seite der gleichen Medaille. 

Woke gegen das Wir – oder Hayeks feuchte Träume

Eine Win-Win Situation, schließlich gehe es der EU darum, „eine Rückgewinnung demokratischen Einflusses über die kapitalistische Ökonomie auf lange Zeit unmöglich [zu] machen“, so auch Wolfgang Streeck in seinem neuen Buch „Zwischen Globalismus und Demokratie“, das wir für Sie unter die Lupe nehmen. Ziel der EU sei es, so Streeck weiter, „Staatlichkeit in global governance“ zu überführen und eine demokratischem Einfluss entzogene „Techno- oder Merkatokratie“ zu errichten. Ein alter Traum Friedrich August von Hayeks by the way. Wie Italien hier schon in der Vergangenheit als Experimentfeld gedient hat, war vor einigen Monaten auf MAKROSKOP zu lesen.

Andererseits ist das Ziel der Überwindung des Nationalstaats – Thema in unserem letzten Spotlight – auch Teil des linken Kulturkampfes bzw. linker Identitätspolitik. Deutlich wird das in der „woken“ Dekonstruktion der „wir“-Beschreibung, der es vor allem darum geht, den Anspruch auf eine nationale Identität als antiquiert zu denunzieren. So wurde jüngst in der Zeit die Forderung der Soziologin Teresa Beck publik, doch gleich alle möglichen "WIR"-Äußerungen unter den Vorbehalt zu stellen, ob nicht irgendein Mitglied der "pluralen Gesellschaft" ungerechtfertigt eingeschlossen sei. Schließlich könne "in einer pluralen Gesellschaft das Wir nie selbstverständlich vorausgesetzt werden...". Die "plurale Gesellschaft" wiederum erscheint Beck ungemein verheißungsvoll, schließlich bergen sie „das Versprechen auf eine in Vielfalt geteilte Welt." 

Ließe sich eine in Vielfalt geteilte Welt nicht auch in Gestalt der Vielfalt des Geldes verwirklichen? Verspricht die digitale Revolution mit tausenden neuen privaten Geldblüten nicht einen Wohlfahrtsgewinn? Unter Jüngern der aktuellen Kryptomanie wird der Bitcoin schon als Weltwährung der Zukunft gehandelt. Neue Nichtbanken-Finanzakteure drängen verstärkt auf den Markt und machen Banken ihre traditionelle Rolle im Zahlungsverkehr und Geldwesen streitig, wie Jörg Bibow weiß. Die Entnationalisierung des Geldes, ein weiterer feuchter Traum von Hayek. Doch welche neuen Risiken für Wirtschaft und Gesellschaft birgt die digitale Revolution?

Progressive Kräfte hoffen vor allem auf eine Revolution des internationalen Steuerwesens. So sei die Einigung einer sehr großen Gruppe von Ländern auf eine globale Mindeststeuer von 15 Prozent auf Unternehmenserträge in der heutigen Welt besser als nichts, weil selbst riesige Unternehmen ja effektive Steuersätze aufweisen, die weit darunter liegen. Der Neoliberalismus hat es so weit kommen lassen, dass „Steuerwettbewerb“ zwischen Staaten, Standortkonkurrenz und Wettbewerb der Nationen als ernsthafte, wenn nicht gar das einzige Mittel angesehen wurden, um die globale Wirtschaft zu beleben.

Doch mit einem Steuersatz, der nicht weit über dem irischen Dumpingniveau liegt, erreiche man genau das nicht, was man mit hohen Steuern erreichen könnte und sollte, kritisiert Heiner Flassbeck. Der extrem niedrige Satz von 15 Prozent sei ein erneuter Beweis dafür, dass wir das wirtschaftliche System, in dem wir leben, missverstehen.