Editorial

Panta rhei

| 20. Juli 2021
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Liebe Leserinnen und Leser,

die Welt dreht sich, auch wenn sie manchmal still zu stehen scheint. Panta rhei, alles fließt, sagte Heraklit. Manchmal wird das Bestehende nur langsam und allmählich fortgetragen, und manchmal regelrecht fortgerissen, so wie es den Menschen in Bad Münstereifel, im Kreis Ahrweiler oder im Berchtesgadener Land die Tage vorgekommen sein muss.

Die Unwetterkatastrophe dürfte das jüngste Synonym des fortschreitenden Klimawandels sein. Plötzlich ist er nicht mehr abstrakt oder ein fernes Ereignis, sondern real – mit aller Unerbittlichkeit und Bedrohlichkeit spürbar. So wie das Corona-Virus als weiteres katastrophales Phänomen eines globalisierten und fragilen Weltwirtschaftssystems unmittelbar zur Lebenswirklichkeit der Menschen auf dem ganzen Planeten geworden ist.  

Es sind Zeichen externer Umwälzungen. Das hat Folgen für die Politik – und die Wirtschaft. Oder: für die Wirtschaft – und die Politik. Nur welche? Das ist die Frage, die sich einem ständig wechselnden Ereignishorizont konfrontiert sieht. The answer is a work in process. Thesen stehen im Raum. Alte Gewissheiten kippen. Der Konsens bröckelt. Wir sind auf der Suche nach einem neuen, der die Risse der Gesellschaft wieder kitten kann.

Eine Frage: Kann der Globalismus als Ende der Geschichte noch die Antwort sein? Sind globale Lieferketten und Fertigungen, die in jedem Winkel der Erde zusammengeschraubt werden, um dann durch das Nadelöhr des Suezkanals mit exorbitanter Co2-Bilanz zum Endverbraucher zu gelangen, noch eine zeitgemäße Antwort? Oder ist derjenige, der diese Frage mit Regionalisierung, heimischer Produktion und staatlicher Steuerung beantwortet, ein gestriger Nationalist?

Es gebe keine wichtigere Funktion für einen demokratischen Staat im Kapitalismus, als seine Bürger vor den Risiken und Nebenwirkungen der Globalisierung zu schützen, sagt der Soziologe und MAKROSKOP-Kolumnist Wolfgang Streeck und positioniert sich – so sehen wir es – zum zentralen Thema unserer Zeit, wo andere betreten schweigen oder verblassten Ideologien nachtrauern.

Daran schließt eine zweite Frage: Lässt sich der Klimawandel mit mehr Markt stoppen? Oder anders gefragt: Kann die EU mit einem „Emission Trade System“ die Treibhausgas-Emissionen bis 2030 um 55 Prozent reduzieren? Das neue „Fit for 55“ Programm der EU-Kommissarin Ursula von der Leyen sieht vor, künftig auch Sprit und Heizöl den Launen der Anleger zu unterwerfen. Das Programm ist umstritten. Von der Leyen verfolge eine „toxische“ Strategie und riskiere soziale Verwerfungen, warnt der Chef des Umweltausschusses, Pascal Canfin. Präsentiert von der Leyen den alten Neoliberalismus mit einem sozialen Feigenblatt?

Die Realitäten ändern sich. Menschen ändern sich. Das Denken ändert sich. Vielleicht nur nicht das von Ursula von der Leyen. Daher noch eine dritte Frage: Ist von der Leyen mit ihrer Marktgläubigkeit nicht längst aus der Zeit gefallen? Ja, glaubt Dirk Bezemer: Wir befänden uns an einem Wendepunkt des makroökonomischen Konsenses. Es werde deutlich, dass hinter den technischen wirtschaftswissenschaftlichen Details immer eine politische Sichtweise steht und stand. Ein grundlegender Wandel der wirtschaftlichen Sichtweisen werde selten durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse angestoßen. Nie wurde bewiesen, dass Länder durch ein verzögertes Lohnwachstum wettbewerbsfähiger werden würden oder Staatsschulden ein Problem seien, und doch war dies dreißig Jahre lang der Konsens.

Und nun? Standpunkte, die unter Mario Draghi bei der EZB noch undenkbar schienen, werden plötzlich akzeptiert, so Bezemer. Kein Wunder, stelle sich der Konsens unter Politikökonomen doch als überraschend konsistent mit der herrschenden Politik heraus. Was politisch zweckmäßig wird oder einfach passiert, scheint Ökonomen plötzlich sinn- und verantwortungsvoll.

Werden wir also Zeugen einer großen Wachablösung? Die Zeichen sind widersprüchlich. Wer im Strom treibt, behält nur schwer den Überblick. Auch wir haben auf diese Fragen keine abschließenden Antworten. Aber wir stellen uns Ihnen. Woche für Woche, Ausgabe für Ausgabe. So auch heute.